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Düstere Botschaften - Berliner Zeitung PDF Drucken
Sonntag, den 01. August 2010 um 23:56 Uhr

Berliner Zeitung Archiv » 2010 » 26. Juli » Berlin
Düstere Botschaften
Die Richterin Kirsten Heisig zeichnet das Bild eines Bezirks außer Kontrolle. Doch Fachleute in Neukölln widersprechen ihr
Sabine Rennefanz, Sabine Deckwerth

Er nannte sich Samurai. Wollte cool sein, machte Kampfsport. Er wusste genau, wohin er schlagen oder treten muss, damit er jemandem wehtut. Kreuzberg, U-Bahnhof Südstern. Tarkan L., Deutschtürke, 21 Jahre alt, will in die U7 Richtung Neukölln. Ein Mann, einen Kopf größer und nur wenig älter als er, steht ihm im Weg. Tarkans Faust knallt in sein Gesicht, er tritt ihn in den Bauch. Die Schläge seien ein Reflex gewesen, wird Tarkan L. später sagen. Er wuchs in Neukölln bei den Großeltern auf, die Eltern sind früh verstorben. Den Hauptschulabschluss schaffte er gerade so, danach lebte er in den Tag hinein, ohne Arbeit, ohne Plan. Sein Opfer hatte Glück. Es kam mit einem blauen Auge und ein paar Prellungen davon. Im April 2010, etwa ein Jahr nach dem Vorfall, saß Tarkan L. vor der Jugendrichterin Kirsten Heisig. Damals wusste er noch nichts von ihr, heute reden alle über sie. Die 48-jährige Heisig war eine von 45 Jugendrichtern am Amtsgericht Tiergarten und für den Bezirk Neukölln zuständig. Anfang Juli nahm sie sich das Leben, sie hat sich in einem Wald erhängt. Am Tag ihres Todes hat sie noch mit ihrem Lektor telefoniert, um Textkorrekturen für ihr Buch durchzugeben. Es heißt "Das Ende der Geduld", erscheint im Herder-Verlag und wird ab heute verkauft.

Ein mildes Urteil

Manche nannten Kirsten Heisig "Richterin Gnadenlos" oder "Schrecken von Neukölln". Kollegen und Anwälte kannten sie anders. Auch Tarkan L. wurde von ihr nicht hart bestraft. Den Schläger vom Südstern behandelte sie fast so nachsichtig wie einen Sohn. So klingt es, wenn Tarkan L. heute über sie spricht. Nett sei sie gewesen, freundlich und sehr interessiert an ihm, sagt er. Anders als Lehrer, Sozialarbeiter, Polizisten, mit denen er vorher zu tun hatte. Richterin Heisig verurteilte ihn zu fünf Terminen bei der Schuldnerberatung, er hat Tausende Euro Schulden. Tarkan L. hat eine Erklärung für das milde Urteil: "Sie hat meine schwere Vergangenheit berücksichtigt", sagt er. In ihrem Buch schildert Kirsten Heisig ihren Alltag als Jugendrichterin in Neukölln. 300 000 Menschen leben hier, jeder dritte hat ausländische Eltern, bei den unter 18-Jährigen sind es sogar 80 Prozent. Viele Familien leben von Hartz IV, es gibt Wohnungen, in denen sich zehn Menschen ein Zimmer teilen. Kirsten Heisig wollte in dem Bezirk arbeiten, sie hat ihn sich gerade wegen der Probleme ausgesucht. Am Ende zweifelte sie, ob sie ihrer Aufgabe als Richterin noch gerecht werden kann. In dem Buch schildert sie ihre Erfahrungen, beschreibt eine brutale Welt. Sie berichtet von Vergewaltigungen durch 13-Jährige, von einem 15-Jährigen, der am Tag seiner Verurteilung wegen Diebstahls eine Drogerie überfiel und danach einen Sicherheitsmann in einem Schwimmbad bewusstlos schlug. Sie schreibt von kriminellen Familien, die sich nicht integrieren lassen wollen, von hilflosen Behörden, von Sozialromantik und blanker Angst. Kirsten Heisig wollte aufrütteln - Übertreibungen nahm sie dafür in Kauf. So behauptet sie, dass die Jugendkriminalität in Neukölln kontinuierlich zunehme, dass die Zahl von Gewaltdelikten wie Körperverletzung und Raub erheblich steigt. Die Polizeistatistik bestätigt das nicht. In Berlin ist die Jugendkriminalität im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr weiter zurückgegangen, bei Raubdelikten um 23,8 Prozent, bei Körperverletzung um 13,1 Prozent. Mit ihren drastischen Thesen ist Kirsten Heisig berühmt geworden - und hat sich Freunde und Feinde gemacht. Die einen verehrten sie, weil sie sich traute, Probleme aufzudecken. Andere hielten sie für gefährlich, weil sie aus Einzelfällen Schlüsse auf den Zustand der Gesellschaft zog. In einem Büro in der vierten Etage eines roten Backsteinbaus in der Jüterboger Straße in Kreuzberg sitzt Manfred Schmandra. Wer zu ihm will, muss sich an Schilderverkäufern und Kunden der Kfz-Zulassungsstelle vorbeidrängeln, die in den unteren Etagen untergebracht ist. Der 55-jährige Kriminaldirektor leitet die Abteilung Verbrechensbekämpfung in der Polizeidirektion 5, die für Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg zuständig ist. Er hat mit jugendlichen Räubern zu tun, er sagt "meine Räuber", wenn er von ihnen spricht. Schmandra lobt Kirsten Heisigs Offenheit. "Für eine Richterin ist das sehr erstaunlich". Manfred Schmandra kannte sie von zwei oder drei Treffen in seiner Direktion. Es ging darum, wie Jugendliche, die durch kleinere Delikte wie Diebstahl oder Sachbeschädigung auffallen, schneller bestraft werden können - möglichst nach wenigen Wochen, und nicht nach vier Monaten, wie üblich. Schmandra setzte sich wie Heisig für eine Verkürzung der Verfahren ein. Als "Neuköllner Modell" ist ihre Initiative bekannt geworden. Inzwischen wird diese Zusammenarbeit in der ganzen Stadt praktiziert. Es ist das Verdienst der Jugendrichterin. Schmandra sah die Jugendrichterin Heisig als eine Verbündete, die den Alltag von Polizisten gut kannte und verstand, dass die Beamten sich oft alleingelassen fühlen. Es einte sie die Sicht, dass Jugendgewalt ein Problem der gesamten Gesellschaft ist und nicht nur der Justiz oder der Polizei. "Wir stehen erst am Ende der Kette", sagt Schmandra. Familien, Kitas, Schulen, Jugendämter und Familiengerichte seien vorher gefragt. "Aber statt gemeinsam an Problemen zu arbeiten, gibt es immer nur gegenseitige Schuldzuweisungen."

Weniger Raub und Gewalt

Trotz seiner Begeisterung für Heisig teilt er nicht alle Einschätzungen. Dass die Jugendkriminalität kontinuierlich steigt, bestätigt Schmandra nicht. Er sagt, auch in Neukölln gehe die Zahl der Raubdelikte zurück. "Aber es gibt heute weniger Täter, die für eine immense Anzahl von Taten verantwortlich sind." Frustriert ist er nicht. Er nennt die Arbeit mit Intensivtätern "erfolgreich". Als Intensivtäter gilt, wer durch mehr als zehn größere Delikte auffiel. 550 solcher Täter sind derzeit in Berlin registriert. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft stammten 2009 aber nur 127 von ihnen aus Neukölln und nicht 214, wie die Jugendrichterin schreibt. Die Zahlen sind seit Jahren konstant. Viele Intensivtäter sitzen inzwischen in Haft. Zu Beginn des Jahres waren es 54 Prozent und damit gut jeder zweite von jenen, die aus dem Bereich der Direktion 5 kommen. Der Polizist Schmandra wertet das als ein Zeichen, "dass wir da auf dem richtigen Weg sind". Rund 10 000 arabischstämmige Menschen leben in Neukölln. Den Kriminellen unter ihnen widmet Heisig ein ganzes Kapitel - und formuliert gewagte Thesen. Die arabische Drogenmafia würde gezielt Kinder aus palästinensischen Flüchtlingslagern nach Berlin holen, damit sie hier Heroin verkaufen. Bei Heisig klingt es so, als wäre es ein wachsendes Problem, und die Jagd nach minderjährigen Dealern vergangene Woche schien ihr auch noch Recht zu geben. Laut Kriminaldirektor Schmandra sind das aber Einzelfälle. Auch die Zahlen der Innenverwaltung belegen das: 26 Kinder wurden in diesem Jahr beim Drogenhandel erwischt. 20 davon haben die deutsche Staatsbürgerschaft und leben bei ihren Eltern. Wenn es um Araber geht, wird Heisig hart. Aus ihrer Sicht werden Jugendliche aus arabischen Familien überproportional oft kriminell, wachsen oft in Familien auf, die mit krummen Geschäften ihr Geld machen. Der Staat habe kapituliert, schreibt sie, er komme an die zehn bis zwölf Familienclans nicht heran, und die Jugendämter seien hoffnungslos überfordert. Die Furcht vor den kriminellen Großfamilien würde alle anderen Aspekte bei Weitem überwiegen, urteilt sie. Thomas Weylandt ärgert sich, wenn er diese Thesen hört. Weylandt ist 56 Jahre alt und Leiter der Jugendgerichtshilfe Neukölln. Sein Büro liegt in einem Gebäude am Ende der Einkaufspassage, die "Kindl-Boulevard" heißt. In den letzten zwei Jahren hat Weylandt oft in den Gerichtsverhandlungen von Heisig gesessen. Er gibt pädagogische Gutachten für jugendliche Angeklagte ab. In ihrem Buch lobt Heisig die "stets sorgsam erarbeiteten Berichte und fundierten Vorschläge" der Jugendgerichtshilfe Neukölln. Weylandt sagt, durch das Buch entstehe der Eindruck, dass es in Neukölln drunter und drüber gehe. Auch er spricht "von einem deutlichen Rückgang" der Jugendkriminalität in seinem Bezirk, insbesondere bei Gewaltdelikten wie Körperverletzung und Raub. "Kirsten Heisig skandalisiert sehr problematische Einzelfälle und zeichnet dadurch ein falsches Bild von jugendlicher Gewalt in Neukölln." In Weylandts Alltag spielen arabische Clans nur eine untergeordnete Rolle. Zwei arabische Großfamilien kennt er. Bei einer würde der Vater großen Wert darauf legen, dass sich seine Kinder an Recht und Gesetz halten. So sei der älteste Sohn aufgefallen, weil er sich zwei Mal nicht an ein Hausverbot für ein Schwimmbad hielt. Der Vater war bei der Gerichtsverhandlung dabei. Er habe in den Saal gerufen, dass er möchte, dass der Sohn eine Strafe bekommt und er sich wünsche, dass er endlich arbeiten geht. Weylandt kennt nur eine Familie, auf die Heisigs Beschreibung passen würde. Diese Familie lebt abgeschottet in ihrer Welt. Fast alle Mitglieder sind kriminell. "Da passieren extreme Gewalt- und Rohheitsdelikte am laufenden Band", sagt der Jugendgerichtshelfer. Auch dem Neuköllner Psychologen Kazim Erdogan hat Kirsten Heisig in ihrem Buch für seine Unterstützung gedankt. Erdogan, der 1974 zum Studium nach Berlin kam, arbeitet beim Psychosozialen Dienst und leitet dort eine türkische Männergruppe, in der über Probleme in Familie, Ehe, im Beruf geredet wird. Sein Amt ist in einem nüchternen Glasbau in der Böhmischen Straße untergebracht.

Männer weinten

In Kazim Erdogans Büro steht ein Schreibtisch, ein runder Tisch mit einem Berg Keksen und Tee darauf. Tarkan L., der frühere Schläger, kommt hierher, weil er mit Erdogan wie mit einem Vater reden kann. Auch Kirsten Heisig war öfter zu Gast. Gemeinsam luden sie türkische und arabische Eltern zu Versammlungen ein, um mit ihnen über Kindererziehung und Gewalt zu reden. Veranstaltungen im kommenden Schuljahr waren schon fest eingeplant. "Ich weiß gar nicht, wie das ohne sie funktionieren soll", sagt Erdogan leise. Heisigs Suizid hat ihn getroffen, mit seiner Männergruppe ist er zu der Gedenkstunde gegangen. Ein paar Männer hätten geweint, als sie vom tragischen Tod der Richterin gehört haben, sagt er. Erdogan denkt viel darüber nach, wie es zum Freitod seiner Mitstreiterin kommen konnte. Er fragt sich auch, ob er sie wirklich so gut gekannt hat, wie er dachte. Das hat mit dem zu tun, was in ihrem Buch steht. Er hat es noch nicht ganz gelesen, kennt nur Auszüge. Die überraschten ihn, so hart kannte er sie nicht. Erdogan sagt, man könne die pauschalen und auf einzelne, persönliche Erlebnisse gestützten Thesen leicht missverstehen. Dann schweigt er wieder. Er will nichts Falsches sagen, er will über die Tote nicht schlecht reden. Schließlich sagt er: "Ich hätte mich gerne mit ihr über ihre Thesen auseinandergesetzt."

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DIE DEBATTE

These 1: Die Gesellschaft steht am Scheideweg. Sie könnte sich spalten in Arm und Reich, muslimisch und nicht-muslimisch.
These 2: Durch elterliches Versagen und unter den Augen der geduldig abwartenden staatlichen Institutionen können kriminelle Jugendliche heranwachsen.
These 3: Türkisch- und arabischstämmigen Jugendlichen ist die hiesige Wertordnung gleichgültig.
These 4: Die Strafmündigkeit soll nicht herabgesetzt, dafür sollen die bestehenden Gesetze konsequenter angewendet werden.
Schlichte Idylle oder Parallelgesellschaft? Im traditionellen Arbeiterviertel Neukölln gibt es noch unsanierte, billige Wohnungen, die sich ärmere Menschen leisten können.

Foto: Kirsten Heisig
Original Beitrag