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philip morris2

Integration ist wie ein Auto - Bündnis für Demokratie und Toleranz PDF Drucken
Sonntag, den 19. September 2010 um 14:14 Uhr
Literaturtipp: „Halbmondwahrheiten“ von Isabella Kroth
 „Integration ist wie ein Auto“

Cover: "Halbmondwahrheiten.
Türkische Männer in Deutschland"
von Isabella Kroth, Diederichs 2010,
1. Aufl., pb, 230 S.,
ISBN 978-3-424-35022-7, 16,95 €
 

Ali wollte eigentlich nur fünf Jahre in Deutschland bleiben, Geld verdienen und als gemachter Mann zurück in die Türkei. Stattdessen lebt er heute von einer kleinen Rente in einer Plattenbausiedlung in Berlin. Zufrieden ist er trotzdem.

Tarik hat eine Karriere in den dunkelsten Ecken Berlins hinter sich. Den Ausweg aus dem Sumpf aus Drogen und Kriminalität will er durch seinen Glauben schaffen. Er hält sich streng an die täglichen Gebetszeiten. „Damit die schlechten Gedanken nicht wiederkehren“, sagt er.

Das Leben Kazims ist eine Erfolgsgeschichte. Er kam als junger Mann allein und mit leeren Taschen nach Berlin, konnte kein Deutsch, hatte wie viele Einwanderer kaum Perspektiven. Heute engagiert sich der Akademiker unter anderem im Psychosozialen Dienst Neukölln und hilft dort Menschen, die in ähnlichen Situationen stecken wie er vor vielen Jahren. Er weiß aus Erfahrung: „Integration ist wie ein Auto. Ohne Pflege, rostet es.“

Kazim Erdogans Geschichte ist die erste von dreizehn im kürzlich erschienenen Band „Halbmondwahrheiten“ von Isabella Kroth. Er war es, der Kroth mit offenen Armen empfing, als sie sich entschloss, ein Buch über türkische Männer in Deutschland zu schreiben. Anfänglich kein einfaches Unternehmen. Von den meisten Migrationsexperten hörte sie: „Keine Chance, die reden nicht mit Ihnen.“ Zu geschlossen sei diese Parallelgesellschaft, in der muslimische Männer leben würden. Aber nicht die Menschen rund um Kazim Erdogan. Der Psychologe hat eine Selbsthilfegruppe für Männer und Väter mit türkischem Migrationshintergrund gegründet, die erste in Berlin, die erste vielleicht in Deutschland.

„Kalif von Neukölln“ nennt sich Erdogan mit einem Augenzwinkern. „Kazim-Abi“, Kazim, der große Bruder, nennen ihn die Männer, die die Selbsthilfegruppe besuchen. Um sie dreht sich der Band, in dem Kroth dieser für Außenstehende schwer zugänglichen Welt nachspürt. Klischeebehaftet und einseitig sind normalerweise die Bilder, die in den Medien von ihnen produziert werden und in den Köpfen zu Hause sind. Auch im Buch „Halbmondwahrheiten“ fehlt es nicht an Ehrenmord, Zwangsheirat und Islamismus. Doch schafft es Kroth, ihnen alles Stereotype zu nehmen. Und zwar eigentlich auf ganz einfache Weise: indem sie sich die Menschen beschaut, das Persönliche an ihrer Geschichte herausarbeitet und den Schicksalen individuellen Charakter gibt. Da sticht ein „Importbräutigam“ nicht mehr oder weniger hervor als ein alleinerziehender Vater oder der „ganz normale“ Gastarbeiter, der nach 30 Jahren Arbeit und Steuern in Deutschland immer noch als Fremder angefeindet wird. Erfrischend anders ist das Buch, auch wenn es sich letztlich um die nicht erst seit Sarrazin geführte Integrationsdebatte dreht. Das „Nirgends-ganz-zu-Hause-sein“, der Teufelskreis aus Ehre und Gewalt, der Druck und die Anforderungen von Heimatkultur und Gastland – hier erhalten wir erstmals eine Innenansicht derer, die sonst nur als Patriarchen und Paschas dargestellt werden.

Mit viel publizistischem Gespür und einer guten Reportagetechnik zieht Kroth den Leser in die Lebenswelt der Protagonisten. Das Buch spielt nicht mit seinen handelnden Personen und hat keine Übertreibungen und Typisierungen nötig. Ausgezeichnet versteht es die Autorin, ganz nebenbei wichtige Fakten einzubauen, die dem Leser das Verständnis der Männer und ihrer Situation erleichtern – zur Geschichte der türkischen Gastarbeiter in Deutschland etwa, zur Bewegung der „Grauen Wölfe“, anatolischen Traditionen oder aktuellen politischen Fragen. Durch den gelungenen journalistischen Stil liest sich das Buch leicht, ohne an Tiefe zu verlieren. Dabei geholfen haben Kroth aber vor allem auch die Männer aus Erdogans Gruppe, denn sie haben den wichtigsten Schritt schon selbst getan: das Schweigen gebrochen. Gemeinsam mit der Autorin lassen sie uns teilhaben, an ihren Wünschen, ihren Problemen, ihren Vorstellungen. Ihren „Halbmondwahrheiten“.

Original Beitrag