Welche Rollenbilder pflegen muslimische Männer?
Männer aus patriarchalen Gesellschaften werden oft als Risiko wahrgenommen – in Neukölln arbeiten mehrere Initiativen an dem Problem.
von Sieglinde Geisel 1.3.2016, 05:30 Uhr

Über 320 000 Menschen aus 160 Nationen leben im Berliner Bezirk Neukölln. Vierzig Prozent von ihnen sind Migranten, dreissig Prozent beziehen Hartz IV, und jeder zweite Jugendliche hat nur einen Hauptschulabschluss oder ist Schulabbrecher. So gross die sozialen Probleme auch immer noch sind: In den vergangenen zwölf Jahren hat sich im einstigen Brennpunktbezirk viel getan. Mehr als 60 Millionen Euro EU-Gelder sind in den Bezirk geflossen, damit wurden elf Quartiersmanagement-Büros und über 1900 Projekte finanziert, darunter erfolgreiche Langzeit-Unternehmungen wie die «Stadtteilmütter» oder das Gleichberechtigungsprojekt «Heroes». «Hier ist viel soziales Miteinander entstanden – der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky war ein Riesenmotor», sagt Arnold Mengelkoch, seit zehn Jahren Migrationsbeauftragter des Bezirks Neukölln. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich zweifellos entspannt.
Migranten in Bewegung
Die soziale Misere in Neukölln hatte nach der Wende begonnen, als über zehn grosse Firmen Neukölln verliessen, unter anderem Eternit, Salzgitter Stahlhandel, Alcatel, Jacobs-Suchard. Der Strukturwandel der 1990er Jahre begünstigte kreative und innovative Bereiche der Industrie, während die produzierende Industrie durch den Wegfall der Berlin-Förderung unter Druck geriet. Bei den 170 000 Arbeitsplätzen, die damals im Westteil der Stadt verloren gingen, handelte es sich vor allem um solche für niedrigqualifizierte Tätigkeiten, und davon waren die Einwanderer in besonderem Mass betroffen. Inzwischen jedoch wird auch Neukölln gentrifiziert: Vor allem im Norden des Bezirks haben sich Studenten und Künstler angesiedelt, die Restaurants werden schicker, und die Mieten steigen. Dies betrifft nicht nur Wohnungen, sondern auch türkische Kulturvereine und Moscheen, die in Zukunft wohl vermehrt Richtung Stadtrand werden ausweichen müssen.
In Bewegung sind auch die Migranten selbst, die in Neukölln vor allem aus dem türkischen und arabischen Raum sowie dem Balkan stammen. Mengelkoch stellt zufrieden fest: «Immer mehr von ihnen absolvieren ein Studium, oft mit enormem Ehrgeiz.» Zahlen gibt es dazu nicht, denn zum ethnischen Hintergrund von Studenten werden keine Daten erhoben. Nur selten allerdings wählten Studenten mit Migrationshintergrund pädagogische oder soziale Fächer, bedauert Mengelkoch: «Ihre interkulturellen Kompetenzen würden wir in den Schulen und der Integrationsarbeit dringend brauchen!» Auch auf der deutschen Seite übrigens sei interkulturelle Kompetenz notwendig. Worin sie besteht? «Im Wissen darum, was es heisst, in der Fremde bei null anzufangen.»
Viele Einwanderer leben ohne Perspektive in Berlin: Palästinenser beispielsweise, die nicht abgeschoben werden dürfen, seit Jahren einen Duldungsstatus haben und alle drei Monate zum Amt müssen. Das Gefühl, nicht zur deutschen Gesellschaft zu gehören, verstärkt die Tendenz zur Abkapselung. Mengelkoch sagt: «Der Sog der Familie ist dann sehr stark, und für den Einzelnen gehört viel dazu, sich aus diesen traditionellen Verhältnissen zu lösen.»
Aus dem arabischen Raum gibt es in Deutschland ein knappes Dutzend polizeibekannte Clans wie die Omeirat, Fakhro oder El Zeyn, die sich seit dem libanesischen Bürgerkrieg vor allem in Essen, Bremen und Berlin niedergelassen haben. Viele von ihnen verweigern sich bekanntermassen der Integration. Frauenfeindliche Übergriffe wie in Köln allerdings würden selbst in diesem Milieu nicht toleriert, davon ist Mengelkoch überzeugt, denn dies entspreche nicht ihrem Verhaltenskodex. Er erzählt von einer Kneipe, in der eine Kellnerin mit bauchfreiem Top von jungen arabischen Flüchtlingen belästigt wurde; sie habe sich beim arabischen Besitzer des Lokals beschwert, worauf dessen Familie die Jugendlichen verdroschen habe.
Die Vorfälle von Köln sind für viele Muslime ein Rätsel, so auch für den in Berlin Spandau geborenen Burhan Kesici, Vorsitzender der konservativen Islamischen Föderation und Generalsekretär des Islamrats: «Wir verstehen nicht, was dort passiert ist. Das sind vollkommen falsche Wertvorstellungen, ein komplett gestörtes Geschlechterverhältnis.» Es mögen Muslime gewesen sein, aber keine religiösen, merkt er an, denn die Täter hätten ja Alkohol getrunken. Und überdies verbiete es das Sittengebot des Islam, dass Männer sich fremden Frauen in dieser Weise näherten. Dass Migranten die Regeln der Mehrheitsgesellschaft akzeptieren müssen, ist für Burhan Kesici selbstverständlich. «Die Frage ist allerdings: Werden wir auch von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert?»
Gespräch in Männergruppen
Mit seinen Integrationsprojekten ist Kazim Erdogan in Neukölln eine Institution; als erster Deutschtürke wurde er 2012 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Als Reaktion auf die Ereignisse von Köln hatte er am 16. Januar 2016 in Kreuzberg eine Demonstration organisiert: «Männer gegen Gewalt», stand auf den leuchtend orangen T-Shirts der Männer. Doch es war ein verlorenes Grüppchen von bestenfalls zweihundert Leuten, die sich auf dem Herrmannplatz eingefunden hatten, umringt von Journalisten. «Zehntausende hätten kommen sollen! Was muss eigentlich noch geschehen, bis wir aufwachen!», empört sich Erdogan in seinem Büro im Bezirksamt Neukölln, wo er als Psychologe arbeitet. Zu seinen vielen Projekten gehört eine Vätergruppe: Vor acht Jahren hatte es mit zwei türkischen Männern begonnen, inzwischen finden sich an den Montagabenden fünfzig, manchmal bis zu achtzig Männer aller Generationen und verschiedener Herkunftsregionen ein. Es geht um Schwierigkeiten in der Ehe, um Sucht, um Gewalt. Viele der Männer sind vorbelastet, denn als Kinder hatten sie von ihren Vätern Gewalt erfahren, manche kommen, weil sie ihren Kindern bessere Väter sein wollen.
Viele Männer aus der islamischen Welt seien in einem «teuflischen Dreieck» gefangen, bestehend aus fundamentalistischer Religion, repressiver Erziehung und fehlender Bildung, so Erdogan. Er selbst ist in einem 350 Einwohner zählenden Dorf in Anatolien aufgewachsen, seine Eltern waren bezüglich der Geschlechterrollen, der Religion und in Erziehungsfragen liberal. Gerade als Analphabeten erkannten sie den Wert der Bildung und schickten ihren Ältesten mit sechs Jahren in ein Internat. 1974 kam Kazim Erdogan nach Deutschland zu einem Onkel, er erhielt zuerst jedoch keine Aufenthaltserlaubnis und wäre beinahe abgeschoben worden. Erst nachdem er sich an der Freien Universität immatrikuliert hatte, konnte er als Student bleiben – seither arbeitet er unermüdlich an der Integration seiner Landsleute. «In dieses Wort hatte ich mich damals verliebt, ich benutzte es ständig und wollte nach aussen zeigen, wie toll ich integriert bin!» Inzwischen vermeidet er es. «Man erwartet von den Migranten und Flüchtlingen, dass sie sich integrieren – aber die Mehrheitsgesellschaft geht nicht auf sie zu. Integration ist keine Einbahnstrasse!»
In den sechziger und siebziger Jahren sei die Situation eine andere gewesen: Da sie im Arbeitsalltag mit Deutschen im Kontakt waren, hätten die damaligen Gastarbeiter auch ohne Deutschkurse besser Deutsch gesprochen als diejenigen, die später kamen. Heute jedoch seien viele Migranten ohne Arbeit, und Arbeitslosigkeit bedeute Isolation: Es fehle nun ein natürlicher Austausch mit den Einheimischen. Auch den Begriff «Willkommenskultur» sieht Erdogan zwiespältig: Die Secondos müsse man schliesslich nicht mehr willkommen heissen, hier wirke der Begriff eher abwertend. Er erzählt von seiner Tochter, die in Berlin geboren ist. Es komme vor, dass sie von Deutschen Komplimente für ihr fehlerfreies Deutsch erhalte – sie erwidere das Kompliment dann einfach, sehr zur Verwunderung des deutschen Gesprächspartners. «Warum muss man immer die Herkunft thematisieren? So entsteht kein Wir-Gefühl.»
«Was ist Ehre?»
Eine der erfolgreichsten Initiativen in Neukölln ist «Heroes»: ein «Projekt gegen Unterdrückung im Namen der Ehre und für Gleichberechtigung». Der deutsch-palästinensische Psychologe Ahmad Mansour und der türkischstämmige Theaterpädagoge Yilmaz Atmaca haben ein Training konzipiert, das in wöchentlichen Sitzungen ein Jahr dauert und mit einer feierlichen Zeremonie endet. Dreissig junge Männer haben seit 2007 das Training zum zertifizierten «Hero» durchlaufen. Zu zweit gehen sie, begleitet von einem Gruppenleiter, in die Schulen und geben Workshops. In seinem Buch «Generation Allah» benennt Ahmad Mansour die Gründe für die Rückständigkeit der islamischen Gesellschaften: Gewalterfahrungen in der Kindheit durch autoritäre Erziehungsmethoden, der «Buchstabenglauben» an den Koran sowie das Verbot kritischen Denkens. Dagegen könne man nur mit Kommunikation und einer umfassenden Bildungsinitiative angehen – sein Projekt «Heroes» in Neukölln ist dafür ein Beispiel.
Meine Gesprächspartner sind zwei «Heroes» der ersten Stunde: Deniz Ince kam mit 17 Jahren zum Projekt, Asmen Ilhan mit 16, damals waren beide Gymnasiasten. «Wir haben hier alle einen Prozess durchgemacht», sagt Asmen, der inzwischen Psychologie studiert, Deniz ist Sozialarbeiter. Ihre Herkunft sei der Schlüssel für die Arbeit in den Schulen: «Die Jugendlichen identifizieren sich mit uns, wir sprechen die gleiche Sprache.» Als Secondos seien sie nicht in der Spaltung des «Wir-/Ihr-Gefühls» gefangen – ein Begriffspaar ihres Lehrers Ahmad Mansour, der darin das grösste Hindernis der Integration sieht.
Heranwachsende brauchten Vorbilder, gerade im Hinblick auf Geschlechterrollen, betont Asmen; im Hinblick auf die Emanzipation der Migranten seien die Ereignisse von Köln ein Rückschritt, der zu Polarisierungen führe, darin sind sich Deniz und Asmen einig. «Wir zeigen den Jugendlichen, dass man auch in unserer Kultur anders Mann sein kann: jenseits der patriarchalen Rollen, die sie von ihren Vätern kennen.» Vor mir sitzen zwei entspannte moderne, westliche junge Männer – im «Heroes»-Training haben sie gelernt, das Rollenbild ihrer Herkunftskultur zu reflektieren und dies anderen weiterzugeben.
Die «Heroes» kommen nicht als Autoritäten in eine Schulklasse, sondern als Gleichgesinnte. Ein Gespräch zum Thema Ehre könne etwa mit einem Vorgeplänkel wie diesem beginnen: «Wir sind alles ehrenhafte Menschen – oder hat hier etwa einer keine Ehre?» Nach der Aufwärmrunde folgt dann die gezielte Frage: «Was ist Ehre?» Ein deutscher Lehrer könne eine solche Frage kaum stellen, ohne damit eine Verurteilung zu implizieren, die ein offenes Gespräch verhindern würde. Auch bei extremen Aussagen von Jugendlichen gehe es darum, deren Meinungen auszuhalten, ohne sie gleich zu verurteilen. Stattdessen komme man durch Fragen zu gemeinsamen Antworten. Ein solcher Austausch könne etwa so ablaufen: Ich will meine Schwester umbringen! – Was hast du davon? – Sie hat die Familienehre beschmutzt. – Stellst du die Ehre damit wieder her? Du zerstörst damit doch auch dein eigenes Leben! «Wir spiegeln die Aussagen und nehmen sie durch Fragen so lange auseinander, bis dem anderen keine vernünftige Antwort mehr einfällt», so beschreibt Asmen das Vorgehen. Oft sind die «Heroes» die Ersten, die mit den Schülern überhaupt über solche Themen sprechen. «Natürlich sind die Schüler nach dem Workshop keine anderen Menschen. Aber in den Köpfen ist viel passiert.»
In den modernen westlichen Gesellschaften ist die Gleichberechtigung der Geschlechter ein Prozess, der seit einem Jahrhundert andauert. Migranten aus patriarchalen Gesellschaften müssen diese Entwicklung im Zeitraffer sowie unter grossem sozialem Druck nachholen. Initiativen wie «Heroes» und Kazim Erdogans Männergruppen zeigen, dass Veränderungen sich nicht durch Mediendebatten herbeireden lassen, sondern nur im Gespräch mit denjenigen, von denen wir Änderungen erwarten.
Originalbeitrag
|