F.A.Z. - Vätergruppe für Deutsch-Türken Drucken
Montag, den 11. August 2014 um 12:17 Uhr

Raus aus der Macho-Ecke

In der ersten Vätergruppe für Deutsch-Türken sprechen Männer ganz offen - über Ehrenmorde und Kinderbetreuung.

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Kemal ist kein Kind der Liebe. Auch keins der Nähe und der Wärme. Für Kemal war kein Platz. Mit den zwei Geschwistern war die Berliner Wohnung seiner Eltern voll. Sie ließen Kemal bei den Großeltern in der Türkei zurück, drei Wochen alt. Irgendwann wollten sie ihn nachholen – aber aus „irgendwann“ wurden sieben Jahre. Kemal nannte seine Oma „Mama“, seinen Opa fortan „Papa“. Als die Großmutter bei einem ihrer Telefonate nach Deutschland der Mutter erzählte, dass ihr Sohn eine Milchvergiftung habe, sagte sie nur: „Ist doch nicht so schlimm, wenn das Kind stirbt.“ Aber davon erfuhr Kemal erst viel später.

Eines Tages standen eine Frau und ein Mann vor der Tür der Großeltern, sie hatten einen Koffer mit vielen Geschenken dabei. Kemal bekam ein elektrisches Auto mit Fernbedienung und einen bellenden Plüschhund. Die Frau und der Mann sprachen von Deutschland und schwärmten dem Jungen von den breiten Straßen vor, von exotischen Früchten. Kemal stieg in das Auto der Unbekannten. Er fragte die Frau: „Kommt meine Mutter auch mit?“, und die Frau antwortete: „Ja, die kommt auch mit.“

Für ein besseres Zusammenleben

Als Kemal sah, wie seine Großmutter im Rückspiegel immer kleiner wurde, wehrte er sich mit Händen und Füßen. Er wollte zurück. Die unbekannte Frau ließ ihn nicht. 15 Stunden dauerte die Fahrt nach Berlin. Da waren die Häuser und der Himmel grau. An den Balkonen hingen Satellitenschüsseln. Alles war Kemal fremd, die Straßen, Gerüche, Geschwister. Auch die Eltern. Richtig kennenlernen konnte er sie nie. „Eigentlich kenne ich sie bis heute nicht“, sagt Kemal viele Jahre später. Er sagt es so beiläufig, dass es nur ernst gemeint sein kann. Früher machte ihn diese Einsicht wütend, heute nur noch traurig.

Früher schlug er um sich, mit Fäusten, Worten, schlechten Noten. Heute spricht Kemal über seine Ängste, und manchmal weint er sogar dabei. Hier hat Kemal zum ersten Mal geweint, ein altes Haus in Berlin-Neukölln. Der Raum im Erdgeschoss ist nur so groß wie ein Schuhkarton, aber die Geschichten in ihm erzählen von ganzen Generationen. 20 Männer, mit Schnauzbart oder ohne, in Sandalen oder Malerschuhen, alle mit einem starken türkischen Tee vor sich auf dem Tisch. Es ist warm, die Männer diskutieren sich heiß über Gewalt an Frauen in der Türkei und in Deutschland.

Deutschlands erste Väter- und Männergruppe für Deutsch-Türken gibt es seit 2007, Kemal kam vor fünf Jahren zum ersten Mal. Er hatte in einem Zeitungsartikel von Kazim Erdogan gelesen, dem Gründer der Gruppe. Auch von den vielen anderen Projekten, die dieser Mann noch anschob für ein besseres Zusammenleben ein Neukölln. Von Aufbruch und Neustart. Aber erst einmal setzte sich Kazim Erdogan Kemal gegenüber, sagte nichts und hörte zu. Kemal erzählte, wie er trotz aller Unwägbarkeiten seinen Schulabschluss machte und als Kabeljungwerker arbeitete. Er verdiente gutes Geld. Der Vater schlug ihn selten, aber wenn, dann hat Kemal es wochenlang gespürt. Ein richtiger Mann solle er endlich werden, schimpfte der Vater, und zu einem richtigen Mann gehöre eine türkische Frau.

Heile türkische Welt

Kemal verliebte sich im Urlaub in seiner Heimatstadt. Sie war Kellnerin und 15 Jahre alt. Seine Schwiegereltern musste er erst davon überzeugen, für sie war er der Deutsche, der ihre Tochter weit weg entführen wollte. Nach der Heirat zogen sie nach Berlin, er arbeitete, sie bekam zwei Söhne. Heile türkische Welt, dachte Kemal. Aber die deutsche Realität holte ihn ein. Kemal wurde arbeitslos, und in der vielen freien Zeit, die er nun hatte, fragte er sich immer häufiger: Bin ich Deutscher oder Türke? 2004 ging die Familie zurück in die Türkei, aber in dem kleinen Dorf wunderten sie sich über den Mann aus Deutschland, dem kein Bart wachsen wollte und der seinen Sohn zur Schule brachte.

Die Eheleute stritten immer häufiger, über alles und nichts. Kemal und seine Frau hatten längst alle schönen Namen füreinander verloren, als sie sich endlich trennten und er beschloss, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Seine Frau blieb mit dem jüngeren Sohn zurück. Sechs Jahre ist das her. So lange hat Kemal ihn nicht gesehen. Kemal war jetzt ein alleinerziehender Vater. Manchmal schnürt er ein Paket für ihn. Er legt Bonbons, Kaugummis und Bilder in den Karton. „Ich möchte das alles berühren, damit mein Sohn mich riecht und spürt.“ So einen Satz hätte Kemal – als Mann und Türke – früher nicht gesagt.

Er musste das erst beigebracht bekommen. Sein Lehrer war Kazim Erdogan. Der erhebt jetzt die Stimme in der Vätergruppe. Es geht noch immer um Gewalt gegen Frauen. Das Thema ist Erdogan wichtig. „In der Türkei werden Frauen aus Gründen der Ehre umgebracht. Auch in Deutschland passiert das. Und es betrifft uns alle, wie wir hier sitzen.“ Er hat Zeitungsberichte auf türkisch dabei, liest Zahlen vor, die eindeutig sind und keine Zweifel lassen. Einige Männer rutschen nervös auf ihren Stühlen. „Wenn mich meine Frau reizt, ist es doch verständlich, dass ich irgendwann an Gewalt denke“, sagt einer. „Nein, auch wenn es drei, sechs oder neun Monate so geht“, sagt Erdogan. Viele Männer nicken. Nicht alle sahen das immer so. Einer glaubt: „Ohne Kazim Erdogan hätte ich meine Ehefrau vielleicht getötet.“

Manche prügeln, andere werden depressiv

Erdogan ist ein mächtiger Mann in einem schmalen Körper. Wenn er in seinem Büro im Bezirksamt mit jemandem spricht, duckt er sich fast auf den Tisch, sein Gegenüber ist so immer einen halben Kopf größer als er. Vor ihm sitzen junge und alte Männer, die seit zwei Monaten in Deutschland leben oder seit 20 Jahren. Was sie erzählen, klingt oft ähnlich. Sie sind unzufrieden damit, ihre Kinder kaum aufwachsen zu sehen, weil sie soviel arbeiten. Sie wollen Vorbilder sein, wissen aber oft nicht wie. Im türkischen Café hören sie die immer gleichen starken Sprüche, aber auch die helfen ihnen nicht weiter.

Vor Erdogan sitzen Männer, die kein Wort Deutsch können, sogenannte Importbräutigame. Sie wurden von in Deutschland aufgewachsenen Deutsch-Türkinnen zur Heirat hierher geholt, bekommen von ihnen ein Taschengeld, weil sie keine Arbeit finden, und verlieren ihre Selbstachtung. In ihnen wächst die Wut. Genau wie in denen Männern, die von ihrer türkischer Frau verlassen werden – auch das kommt vor. Zurück bleiben starke Typen, die schon am Bedienen der Waschmaschine scheitern. Manche prügeln dann. Andere werden depressiv. Alle kommen zu Kazim Erdogan.

Was helfen könnte: ernsthaft zuhören, von gleich zu gleich diskutieren, Lösungen suchen. Das versucht Kazim Erdogan als Neuköllner Psychologe in seinen Beratungen jeden Tag und jeden Montag auch in der Vätergruppe des Vereins „Aufbruch Neukölln“. Er nennt es die anatolische Methode: ruhig zuhören, ernst diskutieren, und wenn es einmal stockt, einen Witz erzählen. Was er über die Jahre beobachtet hat: Ob Integration gelingt, hat meist mit Ehrgeiz, aber auch viel Glück zu tun. Er hatte beides. Erdogan stammt aus einem Dorf in Ostanatolien, wo manche Männer zu ihren Frauen sagen: Entweder gehörst du mir, oder du gehörst ins Grab.

Sein Elternhaus war aus Lehm, bei Regen sickerte Wasser durch das Dach. Erdogans Vater war Analphabet, in seinem Sohn aber sah er Potential. Er schickte ihn auf ein Internat. Erdogan wurde der erste Abiturient aus seinem Dorf. Dann bot ihm sein Onkel an, nach Deutschland zu kommen und in Berlin zu studieren. Vier Tage dauerte die Fahrt im Bus. In einer Fabrik sortierte Erdogan nachts Margarinedosen und verdiente wenig Geld. Er war ehrgeizig. Aber er brauchte Glück. An einem Septembertag 1974 nahm man ihn in Abschiebehaft, weil sein Pass abgelaufen war. Dienstags sollte das Flugzeug gehen, montags erhielt er die Zusage für einen Deutschkurs an der Universität. Er durfte bleiben.

Später unterrichtete er an einer Berliner Hauptschule. Schon damals fiel ihm auf, dass zu den Elternabenden immer nur die Mütter kamen, nie die Väter. Dann trat Erdogan eine Stelle als Psychologe beim Bezirksamt an. Er startete ein Projekt nach dem anderen: Müttergruppe, Vätergruppe, Gewaltprävention. Der Bezirksbürgermeister zeichnete Erdogan aus, Bundespräsident Joachim Gauck steckte ihm das Bundesverdienstkreuz ans Revers. Und trotzdem will er bald aufhören, ein bisschen zumindest. Sein Rat wird aber immer noch gebraucht, auch von Kemal. Etwa dann, wenn er den Behörden erklären muss, warum er seinen kleinen Sohn nicht zur Sprachprüfung bringen kann.

Er hat ihn an einer Berliner Schule angemeldet, und spielt sich so ein Stückchen Normalität vor, die es nicht gibt. Kemal klammert sich an jeden Faden, den er noch in Händen hält. All seine Aufmerksamkeit gilt jetzt seinem Ältesten. Er geht mit ihm in die Bibliothek, bezahlt ihm den Klavierunterricht. Er versucht ihm Vater, Mutter, Onkel und Oma in einem zu sein. Auch für sein Leben hat er wieder etwas Mut gefasst. Er will sich selbständig machen. Eine neue Partnerin hat er auch gefunden. Ein anderer Anker: die Vätergruppe. Fast jedes Mal geht er hin. Nach eineinhalb Stunden beendet Erdogan für diesen Montag die Diskussion, er hofft, dass sie weitergehen wird in den Wohnzimmern der Männer.

Quelle: F.A.Z.

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